1922
100 Jahre sind eine lange Zeit, und wenn diese Marke erreicht worden ist, kann man viele Gründe finden, ein Jubiläum zu feiern. 1922 begann mit dem Marsch der Schwarzhemden von Benito Mussolini die faschistische Herrschaft in Italien, entdeckte Howard Carter das Grab des Tutenchamun, und in Deutschland wurde der Reichsaußenminister Walter Rathenau ermordet. Daneben spielten sich in der Stille andere wichtige Dinge ab, zum Beispiel der erste Besuch eines ausländischen Physikers in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Der Däne Niels Bohr kam 1922 nach Göttingen, und er traf dabei auf den jungen Studenten Werner Heisenberg, die in der Folgezeit kooperierten und den Weg ins Innerste der Welt öffneten, nach dem die Physiker so lange gesucht hatten. In den Jahren von 1924 bis 1927 kam es zu einem völligen Wandel im Weltbild der Physik, die eine Quantenmechanik hervorbrachte, von deren Hervorbringungen die Gegenwart mehr abhängt, als die meisten Menschen ahnen. Als der Literaturkritiker Walter Benjamin von einigen Einsichten der neuen Atomphysik hörte, ohne sie voll erfassen zu können, meinte er, dass ginge einem bei Texten von Franz Kafka doch genau so. Benjamin meinte sogar, dass sich einige Passagen von Kafka mit der Quantenmechanik verstehen ließen – oder umgekehrt? Wie dem auch sei – in dem hier angesprochenen Jahr 1922 schrieb Kafka an seinem Roman “Das Schloss””, und mir scheint, dass es dem Helden des Romans, dem Landvermesser K., mit dem Schloss so geht wie den Physikern mit den Atomen. Man ist gekommen, um sie zu vermessen, doch sie weisen einen ab. Je mehr man von ihnen wissen will – wie K. vom Schloss -, desto klarer wird, dass dies ein unerfüllbarer Wunsch bleibt. Kafka erzählt die Geschichte so, dass der Landvermesser nicht die Welt, sondern in der Welt etwas über sich erfährt. Der Mensch, der zu sich selbst kommen will, kann nicht erwarten, an sein Ziel zu kommen. Der Roman bleibt deshalb unvollendet, und die Atome bewahren weiter ihr Geheimnis. Zwar sind alle Physiker der Ansicht, dass man die Wahrheit über die Atome sagen kann – aber nur so, dass sie ihr geheimnisvoll bleibt.